Parallel zur verstärkten Ausbreitung des Geldwesens und zu einer zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung kann man auch für die `Numeralisierung' breiterer Bevölkerungsschichten einen deutlichen Wandel im 13. Jahrhundert erkennen, der besonders von Italien und dann auch von Frankreich ausgeht. Bis zu dieser Zeit war mathematisches Grundwissen, nämlich im Rahmen der Sieben Freien Künste das Fachwissen der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie, außerdem das zur Berechnung der kirchlichen Festtage nötige computistische Grundwissen überhaupt nur einer sehr kleinen, zu kirchlichen oder staatlichen Ämtern bestimmten Elite in Klosterschulen, Kathedralschulen und den eben erst sich formierenden Universitäten vermittelt worden. Und auch das praktische Rechnen und die Benutzung des Rechenbretts war weitgehend auf Fachleute im klösterlichen und akademischen Bereich, im Finanzwesen und möglicherweise in einigen Bereichen des Handwerks wie dem Bauwesen beschränkt geblieben. Seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts wird dagegen ein zunehmender Bedarf speziell für praktisches Rechnen erkennbar. Dieser zeigt sich an der Ausbreitung des mathematischen Elementarunterrichts im sich formierenden städtischen Schulwesen und an der Entstehung einer umfangreichen nicht mehr nur lateinischen, sondern auch bereits volkssprachlichen Fachliteratur, in der auch der nicht Lateinkundige die Grundrechenarten und Beispiele ihrer praktischen Anwendung erlernen konnte. Auch an der Verbreitung des nach den Fingern wichtigsten mittelalterlichen Recheninstruments, des Rechenbretts, zeigt sich dieser geschichtliche Wandel. Das Rechenbrett, lateinisch abacus oder calculator genannt, war schon in der griechischen und römischen Antike in Gebrauch gewesen war, ist dann im Frühmittelalter aber über lange Zeit nicht mehr nachzuweisen und findet sich erst vom ausgehenden 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts wieder durch klösterliche Fachliteratur bezeugt, und zwar in einer gegenüber der Antike veränderten Form, mit bezifferten Rechensteinen, die außer Addition und Subtraktion auch Multiplikation und Division nach allerdings komplizierten Verfahrensweisen erlaubt. In dieser neuen, von Historikern auch als Klosterabacus bezeichneten Form blieb der Abacus allerdings ein ziemlich esoterisches und wenig verbreitetes Instrument. In nochmals veränderter Form, nämlich mit wieder unbezifferten Rechensteinen, erlangte es dann seit dem 12. Jahrhundert in England und seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich im Finanzwesen weitere Verbreitung, wobei es sich dann allerdings zumeist um ein Rechenbrett nicht mit dezimalen Spalten, sondern mit Spalten für die nicht-dezimalen Münnzeinheiten des Mittelalters gehandelt haben wird, mit denen sich für wissenschschaftliches Rechnen wenig anfangen läßt. Schon im 14. Jh. ist das Rechenbrett dann in Frankreich und England ein weit verbreitetes Utensil, nicht nur im Kontor des Kaufmanns, das seinen Namen von dem französischen Wort für `Rechenbrett' hat, sondern es gehört auch bereits zu den Utensilien privater Bürger- und Handwerkerhaushalte, wo es besonders häufig als Teil der weiblichen Aussteuer bezeugt ist. In Italien dagegen hatte sich schon im 13. Jh. im Handels- und Finanzwesen anstelle des Rechenbretts das schriftliche Rechnen mit den seit dem 12. Jh. allmählich bekannt gewordenen indisch-arabischen Ziffern massiv durchgesetzt, so sehr, daß italienische Bankiers und Kaufleute anscheinend hauptsächlich in ihren ausländischen Niederlassungen mit dem dort üblichen Rechenbrett, in der Heimat dagegen vorwiegend schriftlich mit den neuen Ziffern rechneten. Abacus bzw. ab(b)aco, wird in Italien überhaupt zum Synonym für das Rechnen mit den neuen Ziffern und für Rechnungswesen allgemein, während dieses Wort bis zum 12. Jh. nur das Rechenbrett und die Kunst seiner Benutzung bezeichnet hatte. Bis in die frühe Neuzeit finden sich im übrigen in Frankreich, Deutschland und besonders in England immer wieder schriftliche Rechnungen, in denen die Zahlen einerseits zwar in indisch-arabischen oder in römischen Ziffern notiert werden, ihre Addition oder Subtraktion andererseits aber vermittels einer abazistischen Linienzeichnung durchgeführt oder zumindest kontrolliert wird, in der Punkte oder Kreuze den Rechensteinen auf dem Abacus entsprechen.
Wenn wir es also seit dem 13. Jh. mit einer zunehmenden Numeralisierung breiter Bevölkerungsschichten zu tun haben, so bleibt dieser Vorgang doch größtenteils auf das praktische Rechnen mit den vier Grundrechenarten, insbesondere auf Addition und Subtraktion, beschränkt. Der gewöhnliche Kaufmannssohn mußte sich dagegen kaum mit arithmetischer Zahlentheorie, mit den irrationalen Zahlen der Geometrie, mit den Sexagesmimalbrüchen der Astronomie oder mit den Zahlenintervallen der Musiktheorie herumschlagen, wenn er nicht gerade das seltene Glück oder auch Ünglück hatte, mit dem genialsten, aber wenig verbreiteten mathematischen Lehrwerk des Mittelalters, dem Liber abbaci von Leonardo da Pisa, das neue Ziffernrechnen zu erlernen. Hatte besagter Kaufmannsohn jedoch wissenschaftliche Interessen, die über die Erfordernisse des bürgerlichen Broterwerbes hinausgingen, oder begann er sogar ein Studium, um in kirchliche oder staatliche Ämter zu gelangen, dann konnte allerdings auch er Zugang zu den traditionellen Lehrstoffen des Quadriviums finden, die in den Lehrbüchern seit der Spätantike mit einer bemerkenswerten Kontinuität weitergereicht worden waren, und zu denen seit dem 12. Jh. unter dem Einfluß arabischer Wissenschaft auch eine höchst anspruchsvolle Übersetzungs- und Traktatliteratur für Spezialgebiete wie Algebra und Optik hinzugekommen war.
Von dem so skizzierten Wandel blieb allerdings ein Bereich mittelalterlicher Zahlenverwendung weitgehend unberührt, nämlich die allegorische Interpretation von Zahlen im Bereich der Bibelexegese. Bibelexegeten hatten auf verschiedene Weise mit der Deutung biblischer Zahlen zu tun. Einerseits mußten sie natürlich auf der Ebene des Litteralsinns Jahreszahlen und Maßangaben erklären, nachrechnen und gegebenfalls auftretende Ungereimtheiten ausräumen. Auf der anderen Seite wurden aber biblische Zahlen oder Zahlenangaben auch und vor allem für die allegorische Exegese funktionalisiert. Allegorische Exegese, d.h. sehr vereinfacht gesagt, eine Auslegungsweise, die die wörtliche Aussage des Textes als Träger oder Hülle eines zweiten, gegebenenfalls auch noch mehrfach in sich differenzierten Textsinnes auslegt, indem sie die im Text wörtlich bezeichneten Dinge ihrerseits als Zeichen interpretiert, welche vermittels bestimmter sachlicher Eigenschaften auf andere, partiell ähnliche Dinge hindeuten. Die Herstellung solcher Verweisungsbezüge stütze sich in der Exegese auf partiell übereinstimmende Eigenschaften zwischen der zu deutenden Sache oder Person oder Handlung einerseits, und ihrem allegorischen Signifikat andererseits, und zu den als signifikant eingeschätzten Eigenschaften gehörten neben der stofflichen Qualität oder der ethnischen oder geographischen Zugehörigkeit oder bestimmten Funktionsmerkmalen sehr häufig eben auch zahlhafte Eigenschaften. Auf diese Weise konnten dann zum Beispiel die zwölf Stämme des erwählten Volkes Israels, die zwölf Edelsteine im Brustschild des Hohepriesters oder die zwölf Brunnen von Elim jeweils als Figur der 12 Apostel gedeutet werden, die von Christus zur Gründung seiner Kirche erwählt wurden und diese mit ihren Tugenden schmücken und mit dem Wasser ihrer Lehre speisen.
Viele bibelexegetischen Zahlendeutungen sind Deutungen dieses einfachsten Typs, bei denen speziell die Gleichheit der Zahl ein `tertium comparationis' zwischen Zeichen und Bezeichnetem bildet, aber ansonsten keine rechnerischen Operationen oder mathematischen Lehrinhalte erforderlich sind. Oft wurden jedoch auch besondere arithmetische Eigenschaften der auszulegenden Zahl selber herangezogen, um eine Beziehung zum Signifikat herzustellen, und zwar insbesondere dann, wenn das Signifikat nicht in einer bestimmten geeigneten Zahl auftritt, oder wenn die auszulegende biblische Zahl so singulär ist, daß sich ihr weder in der übrigen biblischen Geschichte noch in der sonstigen göttlichen Schöpfung ohne weiteres ein gleichzahliges Signifikat zuordnen läßt. Als ein bekanntes Beispiel lassen sich die 153 Fische anführen, die von den Aposteln aus dem See von Tiberias gefischt wurden (Io 21,11). Hier wurde für die Deutung gerne darauf zurückgegriffen, daß die 153 eine Dreieckszahl, ein `numerus trigonus' ist, d.h. sie kann durch Addition der natürlichen Zahlen 1 bis 17 gebildet werden und deshalb bei entsprechender Anordnung von 153 Einheiten als ein gleichseitiges Dreieck mit einer Seitenlänge von 17 Einheiten dargestellt werden. Vermittels dieser Beziehung zur Zahl 17, die ihrerseits in die Zehnzahl der Gebote und in die Siebenzahl der Gnade oder der ewigen Seligkeit aufgelöst wurde, konnten dann auch die 153 von den Aposteln gefangenen Fische als Figur Gläubigen gedeutet werden, die sich den Geboten Gottes (der Zehnzahl) unterwerfen und durch seine Gnade zur Seligkeit der ewigen Sabbatruhe (der Siebenzahl) erlöst werden.
Das arithmetische Fachwissen, das bei solchen Deutungen herangezogen wurde, war jedoch in der bibelexegetischen Tradition immer noch recht elementar und verlangte lediglich gewisse Grundkenntnisse, aber keine sehr weitreichende Schulung in den Fächern des Quadriviums: es beschränkte sich zumeist darauf, daß bestimmte Eigenschaften, die eine Zahl als gerade oder ungerade Zahl, als vollkommene, untervollkommene oder übervollkommene oder auch als Flächen- oder Körperzahl besitzt, für die Deutung beansprucht wurden. Proportionen und darauf aufbauende komplexere Lehrinhalte der Arithmetik und Musiktheorie spielten dagegen nur sehr selten eine Rolle, und für die Heranziehung irrationaler Zahlen ist in der Bibelexegese bisher überhaupt kein Beleg aufgetaucht. Auch was Zahlschriften und die Instrumente der operativen Arithmetik angeht, so wurden zwar seit patristischer Zeit häufig besondere Gegebenheiten der Fingerzahlen und der römischen und griechischen Zahlzeichen, nicht aber in späterer Zeit dann auch besondere Gegebenheiten des Abacus oder der indisch-arabischen Ziffern einbezogen. Die allegorische Zahlendeutung der Bibelexegese blieb vielmehr bis zur Reformationszeit im wesentlichen konservativ dem Deutungsgut der frühen Kirchenväter verpflichtet und ignorierte Änderungen und Fortschritte auf dem Gebiet der Mathematik. Die bibelexegetische Zahlendeutung war außerdem, sieht man ab von den patristischen Anfängen, in erster Linie eine Angelegenheit von Theologen für Theologen (oder Theologiestudenten), die von Laien nicht selbständig auszuüben war, von ihnen `de jure' ebenso wie die Bibelexegese überhaupt noch nicht einmal ausgeübt werden durfte, und deren Deutungsresultate der Laienwelt nur in dosierter Form in der Predigt und seit dem Spätmittelalter auch in sonstiger Erbauungsliteratur vermittelt wurden.
Mein Interesse an der Geschichte der Mathematik und an der Geschichte exegetischer Zahlendeutung ist nun speziell motiviert durch die Frage, welche Rolle Zahlen in der literarischen und poetischen Produktion des Mittelalters spielten, und in welcher Weise, über die bloße Produktion hinaus, mittelalterliche Autoren auch von ihren Lesern oder doch von einigen dieser Leser erwarteten, mit den Zahlen und zahlhaft gegliederten Aufbauverhältnissen in ihren Werken interpretierend umgehen zu können. Zahlen spielen natürlich zunächst einmal eine wichtige Rolle für den metrischen Aufbau des einzelnen Verses und der Strophe, und dieses Gebiet wurde von der modernen Literaturwissenschaft auch schon immer sehr gründlich bearbeitet. Zahlen dieser Art, die für die klassischen Versmaße von Augustinus in De musica auf musikalische Proportionen zurückgeführt werden, brauchten vom Leser bzw. Hörer der Dichtung nicht bewußt wahrgenommen zu werden, sondern konnten ihre ästhetische Wirkung auch unbewußt entfalten. Mein Interesse gilt dagegen der literarischen oder poetischen Adaption von Zahlen bzw. Zahlendeutungen aus dem Bereich der allegorischen Bibelexegese, d.h. solchen Fällen, in denen mittelalterliche Autoren ihre Werke für eine Exegese ähnlich der Bibelexegese einrichteten, und hier war dann natürlich ein bewußter Mitvollzug durch den Leser und dessen Einsatz eines spezifischen Fachwissens erforderlich. Das schränkt das Interesse notwendig ein auf Werke, deren Autoren eine gewisse Schulung auf dem Gebiet der Exegese besaßen und auch unter ihren Lesern zumindest einige mit einer solchen Schulung erwarteten. Denn die landläufige Vorstellung, daß `der' mittelalterliche Mensch schlechthin Zahlen allegorisch oder, wie es meist heißt, `symbolisch' interpretiert habe, diese Vorstellung ist genauso realistisch wie etwa die, daß `der' moderne Mensch ein Röntgengerät oder einen Computertomographen bedienen könne.
Um Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, an das Thema so heranzuführen, daß Sie sich nicht auf das Glatteis literaturwissenschaftlicher Spekulation gedrängt zu fühlen brauchen oder doch zumindest das rettende Ufer geschichtlich verifizierbarer Hintergründe immer noch im Auge behalten können, will ich im folgenden so verfahren, daß ich einen verhältnismäßig elementaren Lehrstoff mittelalterlicher Arithmetik, die Lehre von den vollkommenen Zahlen, zunächst in seinem arithmetischen Verständnis bei Boethius und in seiner bibelexegetischen Nutzanwendung bei Augustinus vorstelle, um erst dann einige Beispiele seiner Nutzanwendung im Bereich der Dichtung vorzuführen, wobei auch im Bereich der Dichtung sicherheitshalber solche Fälle den Anfang machen sollen, in denen die Autoren ausdrücklich darauf hinweisen, daß und warum sie vollkommene Zahlen für den Aufbau ihrer Dichtung verwenden.
Die vollkommenen
Zahlen, `numeri perfecti secundum partium aggregationem', werden in Buch I
zusammen mit den untervollkommenen (inperfecti, deminuti, indigentes)
und übervollkommenen (plus quam perfecti, superflui, abundantes) als eine
Unterart der geraden Zahlen vorgestellt, die sich danach definiert, wie
eine gegebene Zahl sich zur Summe (aggregatio) ihrer möglichen Teiler
verhält: ist diese Summe kleiner als die Zahl selbst, so gehört die Zahl
zu den `numeri inperfecti', wie z.B. die 8, bei der die Summe der Teiler 1, 2 und 4 nur 7 ergibt. Ist
die Summe der Teiler dagegen größer als die Zahl selbst, so gehört die Zahl zu den `numeri plus
quam perfecti', wie z.B. die 12, bei der die Summe der Teiler 1, 2, 3, 4 und 6 insgesamt 16 ergibt.
Lediglich wenn die Zahl mit der Teilersumme übereinstimmt, wie im Fall der durch 1, 2 und 3
teilbaren 6, gilt die Zahl als ein `numerus perfectus'.
Boethius deutet in seiner Behandlung dieser Zahlenarten auch ein
moralisierendes Verständnis, wenn er darauf hinweist, daß die
untervollkommenen und die übervollkommenen Zahlen den menschlichen
Lastern gleichen, weil sie genau wie diese sehr verbreitet sind und
sich keiner bestimmten Ordnung unterwerfen, während `vollkommene Zahlen',
die gleich menschlicher Tugend das rechte Maß, die Mitte zwischen Übermaß
und Mangel, bewahren, äußerst selten sind und nach einer bestimmten
Ordnung auftreten. Und Boethius deutet zugleich auch eine ästhetische
Bevorzugung der vollkommenen Zahlen an, wenn er die übervollkommenen
mit polymorphen Monstren aus der Mythologie wie dem aus Löwe, Drache
und Mensch zusammengesetzten Geryon vergleicht, während er die
untervollkommenen mit Mißgestalten vergleicht, die, wie die einäugigen
Zyklopen, durch ein Zuwenig an natürlichen Körperteilen charakterisiert
sind. Bei diesen Vergleichen, die Boethius bereits aus seiner
griechischen Vorlage übernimmt, steht im Hintergrund die Vorstellung,
daß eine Zahl einen aus Gliedern, `partes', zusammengesetzten `Körper'
besitzt, so daß nur bei den vollkommenen Zahlen die Glieder in einem
ausgewogenen Verhältnis zum Körper der Zahl stehen. Doch geht es
Boethius nur ganz am Rande um solche moralische und ästhetische
Bewertung von Zahlen, die in seiner Arithmetik auch nur an dieser
einen Stelle ausnahmsweise einmal zur Sprache kommt. Sein eigentliches
Anliegen ist vielmehr die Beschreibung der `Ordnung', in der die
vollkommenen Zahlen auftreten und rechnerisch ermittelt werden
können.
Gemeint ist mit dieser `Ordnung' das Bildungsgesetz für vollkommene Zahlen, in moderner Formulierung
2n * (2n+1-1), wobei der Ausdruck in der Klammer eine
Primzahl ergeben muß. Es wird von Boethius in einem eigenen Kapitel
vorgestellt, und zwar in der folgenden Weise: den Ausgangspunkt
bildet die Reihe der `numeri pariter pares', d.h. gerad-gerade
Zahlen (1, 2, 4, 8, 16... [2n]), deren Glieder so lange
miteinander addiert werden, bis die Summe eine Primzahl ergibt.
Multipliziert man diese Primzahl mit dem zuletzt addierten Reihenglied,
so ergibt sich eine `vollkommene Zahl'. Boethius führt diese
Berechnungsweise für die ersten drei vollkommenen Zahlen vor
(1+2=3, 3*2=6; 1+2+4=7, 7*4=28; 1+2+4+8+16=31, 31*16=496), und er
erwähnt auch noch die vierte vollkommene Zahl, 8128. Der geordnete
Charakter ihres Auftretens ergibt sich für Boethius allerdings nicht
nur aus der Möglichkeit, vollkommene Zahlen nach einer festen Regel
zu bilden, sondern auch aus der auf diese vier ersten vollkommenen
Zahlen abgeleiteten Regelmäßigkeit, daß im Bereich jeder Zehnerpotenz,
d.h. innherhalb der 10, der 100, der 1000 und der 10.000, jeweils genau
eine vollkommene Zahl auftrete, und daß diese jeweils abwechselnd
entweder auf 6 oder auf 8 ende. Vermutlich darum, weil für die
Auffindung von vollkommenen Zahlen die im Mittelalter rechnerisch
aufwendige Bestimmung von Primzahlen erforderlich ist, wurde erst im
15. Jh. durch die Entdeckung der fünften Primzahl, 33.550.336, erkannt,
daß diese Regelmäßigkeit nur für die ersten vier vollkommenen Zahlen
gilt.
Boethius behandelt die vollkommenen Zahlen als eine Unterart der
geraden Zahlen, stellt aber nicht die von neuzeitlichen Mathematikern
untersuchten Frage, ob es auch ungerade `vollkommene Zahlen' geben könne.
Rein intuitiv ist dem Nichtmathematiker eigentlich unmittelbar klar, daß
ungerade Zahlen nicht genügend ganzzahlige Teiler besitzen können, um
aus der Klasse der untervollkommenen Zahlen in die der vollkommenen
oder sogar in die der übervollkommenen aufsteigen zu können. Hierfür auch
den Beweis anzutreten ist jedoch erst in der modernen Mathematik ein
Anliegen geworden und war dann der Hauptgrund, warum sich moderne
Mathematiker überhaupt noch mit den vollkommenen Zahlen beschäftigen.
Trotzdem findet sich auch bei Boethius eine Erörterung, die zumindest
von ganz ferne in diesen Zusammenhang gehört. Denn Boethius vertritt
und begründet die Auffassung, daß auch die Zahl Eins zumindest
"in potentia" und "virtualiter" zu den vollkommenen Zahlen gehöre:
Für Boethius ist sie das erste Glied
in der Reihe der gerad-geraden Zahlen; sie ergibt, auch ohne mit
vorhergehenden Reihengliedern addiert werden zu müssen oder zu können,
eine Primzahl; und wenn man diese Primzahl mit dem Reihenglied, also mit sich selber,
multipliziert, so ergibt sich wieder die Eins, womit diese zumindest für Boethius gemäß der
Bildungsregel als vollkommene Zahl erwiesen ist. Oder doch
zumindest als virtuell vollkommene Zahl, da sie ja keine ganzzahligen
Teiler besitzt, deren Summe sie auch als real vollkommene Zahl erweisen
könnte. Allerdings ist damit noch nicht unbedingt der Beweis einer
ungeraden vollkommenen Zahl angetreten, da für Boethius die unitas Eins
ebenso ja auch die erste der geraden, der ungeraden und der Primzahlen
ist.
Das von Boethius in den Kapiteln 19-20 des ersten Buches der
Institutio arithmetica vermittelte Lehrwissen über die
vollkommenen Zahlen bildet die Summe dessen, was auch auch in den
folgenden fast tausend Jahren zu diesem Thema überhaupt bekannt war
und, mit manchen Kürzungen, in den arithmetischen Lehrwerken gelehrt
wurde. Die Kürzungen betreffen meist das Bildungsgesetz, die
moralisierende und ästhetische Deutung, und die Einordnung der Eins
unter die vollkommenen Zahlen. Auch auf die Anführung der dritten und der vierten
vollkommenen Zahl wurde oft verzichtet. Dieses Lehrwissen blieb
fester Bestandteil innerhalb des arithmetischen Lehrstoffs, hatte
jedoch innerhalb des Quadriviums keine weitere Funktion: vollkommene
Zahlen sind ohne Belang für die Proportionen und Medietätenlehre der
Arithmetik, sie spielen keine Rolle für geometrische oder astronomische
Berechnungen und sind ebensowenig von Bedeutung für die Bestimmung der
musikalischen Intervalle und Harmonien, wie sie auch in der operativen
Arithmetik keine Bedeutung erlangt haben. Es handelt sich also
gewissermaßen um ein Stück Arithmetik als L'art pour l'art, geeignet
eigentlich nur, um Schüler damit zu quälen oder Mathematiker damit
zu erfreuen.
Der biblische Schöpfungsbericht, speziell die Aussage, daß Gott in sieben
Tagen seine Schöpfung vollendete bzw. in sechs Tagen und dann am siebenten
ruhte, bot dabei in seinen lateinischen Übersetzungen auch einen besonderen
sprachlichen Anhaltspunkt für diese exegetische Tradition. Denn die von
Augustinus zugrundegelegte Übersetzung der Vetus Latina verwendet hier für
`vollendete' das Verb "consummavit", das eben auch als arithmetischer
Ausdruck gedeutet und dann auf die Vollkommenheit der Sechszahl bezogen
werden kann, von der es in der arithmetischen Fachsprache heißt:
"partibus suis consummatur". Noch näher kommt der arithmetischen
Fachterminologie dann die von Hieronymus geschaffene Übersetzung der Vulgata,
die für `vollenden' das Verb perficere verwendet: "igitur perfecti sunt caeli
et terra et omnis ornatus eorum", was beinahe schon danach
verlangt, als Hinweis auf die in der Sechszahl der Schöpfungstage auch zahlhaft angelegte `perfectio' der Weltschöpfung verstanden zu werden.
Augustinus hat die arithmetische `Vollkommenheit' des Sechstagewerkes in mehreren seiner
Schriften behandelt, und am ausführlichsten in seinem Kommentar De genesi ad litteram, der
sich zwar auf die Erklärung des Litteralsinns weitgehend beschränkt, das arithmetische
Zahlenverständnis jedoch dafür einsetzt, eine verborgene innere Ordnung der sechs Tage und der an
ihnen geschaffenen Werke aufzudecken. Ausgangspunkt ist für Augustinus einerseits das Verständnis
der 6 als `numerus perfectus', der sich in der Summe seiner Teiler 1, 2 und 3 wieder erfüllt, und
andererseits auch das Verständnis der 6 als Dreieckszahl, die bei fortschreitender Addition eben
dieser Teiler 1 plus 2 plus 3 ein gleichseitiges Dreieck von sechs Einheiten mit einer Seitenlänge von
3 Einheiten ergibt. Eben diese `vollkommene' Zusammensetzung der Zahl 6 durch ihre Teile 1, 2 und
3, und zwar in genau der fortschreitenden Reihefolge die zugleich den `numerus trigonus' ergibt,
erkennt Augustinus auch in den Werken der sechs Schöpfungstage wieder (cf. Tabelle I):
der
erste Schöpfungstag mit der Erschaffung des Lichts, die für Augustinus zugleich die Erschaffung der
himmlischen Intelligenzen impliziert, steht als `ein' Tag für sich allein. Auf ihn folgen `zwei'
zusammengehörige Tage, an denen das Weltgebäude, die `fabrica mundi' geschaffen wurde: und
zwar am zweiten Schöpfungstag zunächst den `oberen Bereich', das Firmament des Himmels, und
am dritten Schöpfungstag den `unteren Bereich', das trockene Land und das Meer. Die letzten `drei'
Schöpfungstage faßt Augustinus dann in der Weise zusammen, daß an ihnen diejenigen Geschöpfe
geschaffen wurden, die sich in dieser `fabrica mundi' bewegen und sie bevölkern und schmücken
sollten: am vierten Schöpfungstag zunächst wieder im oberen Bereich die Himmelskörper, Sonne,
Mond und Sterne, am fünften Schöpfungstag dann im `unteren Bereich' die Tiere des Wassers und
der Luft, und am sechsten Schöpfungstag schließlich die Tiere des Landes und als vollkommenstes
Werk zuletzt der Mensch.
Gott hat sein Werk für Augustinus darum nach genauer Maßgabe der
ewigen und unveränderlichen arithmetischen Eigenschaften der Zahl 6 geschaffen, und zwar nicht,
weil er sich einer außer ihm selber befindlichen Gesetzmäßigkeit der Zahlen unterworfen hätte,
sondern weil, wie Augustinus im Rahmen einer längeren philosophischen Argumentation erklärt, Gott
selbst das unveränderliche Gesetz ist, daß sich in den veränderlichen Dingen als deren Maß, Zahl und
Gewicht begrenzend, ordnend und formend ausprägt. Die Sechszahl ist für Augustinus darum auch
nicht deshalb vollkommen oder erst dadurch vollkommen geworden, weil sie von Gott für seine
Schöpfung gewählt wurde, da diese Zahl ja nicht minder vollkommen wäre, wenn die Welt
stattdessen in drei Tagen erschaffen worden wäre, sondern die Sechszahl wurde von ihm gewählt,
weil sie eine vollkommene ist. Die Einsicht in diese Vollkommenheit liegt insofern für Augustinus
bemerkenswerterweise eher beim Arithmetiker als beim Exegeten, und dies hat später besonders bei
Gregor dem Großen Protest hervorgerufen, der sich auf den unverfänglicheren Standpunkt stellte,
daß die Vollkommenheit der Sechszahl letztlich nicht mit arithmetischer Weltweisheit zu erklären,
sondern aus der göttlichen Wahl dieser Zahl für die Schöpfungstage hervorgehe. Auch Gregor hat
aber im übrigen das betreffende arithmetische Fachwissen bei jeder sich bietenden Gelegenheit für
seine Zahlenexegese instrumentalisiert und ihm so kaum weniger als Augustinus selber zu einer festen
Tradition in der nachfolgenden mittelalterlichen Exegese verholfen.
Die angeführte augustinische Exegese aus De genesi ad litteram setzt das arithmetische
Zahlenverständnis zunächst nur für die Deutung des Litteralsinns und für daran anknüpfende
theologisch-philosophische Überlegungen ein, nicht aber auch schon für die allegorische Exegese, da
die sechs Tage hier noch nicht als Zeichen für andere Dinge interpretiert werden. Für sein
allegorische Verständnis der sechs Schöpfungstage kann dagegen eine Stelle aus dem vierten Buch
von De trinitate herangezogen werden. Hier führt Augustinus bei der Erläuterung der
arithmetischen `Vollkommenheit' der Sechszahl den biblischen Schöpfungsbericht als erstes von
mehreren biblischen Zeugnissen an, wobei er diesmal nicht auf den internen Ordo aller sechs
Schöpfungstage besonderen Wert legt, sondern darauf, daß das vollkommenste Werk, der `ad
imaginem Dei' geschaffene Mensch, am sechsten Tage erschaffen wurde. Diesmal schreitet
Augustinus jedoch von diesem noch litteralen Verständnis weiter fort zu einem allegorischen
Verständnis (cf. Tabelle II), indem er die sechs Tage der Schöpfung interpretiert als Präfiguration
der sechs Weltalter, in denen sich die gesamte irdische Geschichte vollzieht, und die nach einer schon
an jüdisches Vorstellungsgut anknüpfenden Tradition unterschieden werden als Weltalter Adams,
Noahs, Abrahams, Davids, der babylonischen Gefangenschaft und -- als sechstes und gegenwärtiges
-- das Weltalter Christi. Indem Augustinus diese Sechsteilung der `aetates mundi' zugleich mit dem
ebenfalls die gesamte Weltgeschichte umspannenden, aber nur dreiteiligen Schema der `tria tempora'
in Einklang bringt, deckt er innerhalb der sechs Weltalter eine arithmetisch `vollkommene'
Untergliederung in diesmal zwei plus drei plus ein Weltalter auf: denn die ersten zwei Weltalter
(Adam und Noah) entsprechen der Zeit vor dem Gesetz; die folgenden drei (Abraham, David,
babylonische Gefangenschaft) entsprechen der Zeit unter dem Gesetz, die hier mit Abraham statt mit
Moses beginnen darf, da im Bund mit Abraham erstmals die Beschneidung eingesetzt wurde; und
diese drei folgt als letztes und Siegel der Vollkommenheit das Weltalter Christi, in dem mit Christus
als dem zweiten Adam die Zeit der Gnade begann.
Die Prosaerklärung macht unmißverständlich deutlich,
daß es das arithmetische Verständnis der
Sechszahl als `numerus perfectus in partibus suis' ist,
das Alkuin dem Formenbau seiner sechs mal
sechs Verse zugrundegelegt hat. Dieser arithmetischen
Vollkommenheit des Liedes wird zugleich eine
moralisch vervollkommnende Wirkung auf die Sinne der
Empfängerin Gundrada zuerkannt, wobei
diese Wirkung jedoch nicht als eine allein von der
zahlhaft gegliederten Materialität der Verse
ausgehende vorzustellen ist, sondern als eine Wirkung,
die im Zusammenspiel zwischen dieser
zahlhaften Form und der davon stimulierten geistlichen
Betrachtung entsteht. Was es mit der
Sechszahl für Alkuin sonst noch `auf sich hat' wird dann
zwar sehr höflich der Erklärung des großen
Karl überlassen, aber ein wenig davon können wir davon
doch auch ohne kaiserliche Hilfe bei
Betrachtung des Textes erkennen. Dort sehen wir, daß
die Wahl der Sechszahl auch thematisch
motiviert ist: denn Thema ist das Lob Gottes für seine
Erschaffung des Menschen als eines
geistbegabten, gottebenbildlichen Wesens, und damit das
Werk des sechsten Schöpfungstages. Und
Anliegen des Gedichts in Bezug auf die Empfängerin ist es,
deren ganzes Leben, "tua tempora",
unter das Lob dieses Schöpfers zu stellen. In der
Formulierung "tua tempora" mußte für den
exegetisch kundigen Leser der Zeit ein weiteres aus
der Exegese der Sechszahl vertrautes Thema
anklingen: wie nämlich die Geschichte der Welt sich in
sechs Weltaltern vollendet, so vollendet sich
auch in sechs Lebensaltern das Leben des einzelnen Menschen,
die hierbei als infantia, pueritia,
adolescentia, iuventus, senectus und decrepitas eingeteilt
wurden. In Hinsicht auf den Aufbau des
Gedichts kann man nun fragen, ob sich dort ähnlich wie
laut Augustinus im Ordo der sechs
Schöpfungstage die arithmetische Vollkommenheit der
Sechszahl durch eine signifikante
Ordnungsfunktion der Teiler 1, 2 und 3 niedergeschlagen
hat. An der rein formalen Gliederung in
sechs Strophen zu je 6 adonischen Versen ist dies nicht
zu erkennen. Aber berücksichtigt man auch
die thematische Untergliederung, so scheint mir in der Tat
eine arithmetisch `vollkommene'
Gliederung vorzuliegen. Deutlich ist zunächst ein klarer
Einschnitt in der Mitte des Gedichts, da die
ersten drei Strophen Gott apostrophieren, während die
letzten drei Strophen sich der Adressatin
Gundrada zuwenden und hierbei auch die erste Gedichthälfte
noch einmal zusammenfassend als
"haec pia verba" bezeichnen. Aber auch innerhalb der ersten
Gedichthälfte ist eine Untergliederung
erkennbar: die beiden ersten Strophen sind durch die
Konstruktion `non modo parva pars mundi,
sed imago magna' zu einer zusammengehörigen Gruppe geordnet,
von der sich die dritte Strophe
absetzt durch die einleitende Apostrophe `O deus et lux' und
durch den Wechsel von der
unpersönlichen Aussage über den Menschen zu einer `wir'-Aussage
der Menschen, in der der
lyrische Sprecher sich selber einschließt. Es scheint demnach,
daß eine Untergliederung der 6 in
(2+1)+3 Strophen beabsichtigt ist, die die arithmetische
Vollkommenheit der Sechszahl auch in der
Untergliederung des Liedes widerspiegelt.
Das arithmetische Verständnis `vollkommener Zahlen' kling in mehreren dieser Figurengedichte
und ihrer Prosaparaphrasen an und ist am anschaulichsten in in Figur XXIII
gestaltet:
Natürlich ist es dann auch kein Zufall, daß der gesamte Zyklus abzüglich der Praefatio und der
Prosastücke genau 28 carmina figurata enthält. Hrabanus weist hierauf selber in der Erklärung des
28. dieser Gedichte ausdrücklich hin:
Die Zahl 28 in ihrer arithmetischen `Vollkommenheit' wird somit
thematisch der `Vollkommenheit'
des Kreuzes und, in Anspielung auf das Wort "consummavi", der
Vollendung des Heilswerkes in
der Passion Christi assoziiert. Aber wie schon in Alkuins
Prosaerklärung ist damit noch längst nicht
alles über die Bedeutung des arithmetischen Zahlenverständnisses
für den Aufbau des Werkes
gesagt. Denn wie erst 1975 durch den Germanisten Burkhard Taeger
entdeckt wurde, ist auch die
Binnengliederung des Zyklus auf dieses Zahlenverständnis gestützt.
Das Gliederungskriterium ist
hierbei ein rein formales, nämlich die Buchstabenzahl der Gedichte
pro Vers. Diese Zahl variiert zwar
nicht innerhalb des einzelnen Gedichts, aber sie variiert von Gedicht
zu Gedicht, und zwar in der
Weise, daß (cf. Tabelle VIII)
Seinem Programm
entsprechend schrieb Dante sein Hauptwerk, die Commedia, in
der Volkssprache, in der
Absicht, ein möglichs breites Publikum von Lesern und Hörern zu
erreichen, aber dabei unterschied
er doch innerhalb dieses Publikums sehr genau zwischen einer
Mehrzahl von Lesern oder Hörern
einerseits, die keine wissenschaftliche Vorbildung besaßen,
und einer Minderzahl von `happy few'
oder `beati pochi' andererseits, die, wie er sagt, frühzeitig
den Hals nach dem `Brot der Engel'
gereckt hatten. Die Danteforschung tut sich seit jeher schwer
damit, von dieser zweischneidigen
Lesererwartung nicht nur die eine Seite wahrzunehmen, d.h. die
didaktische Seite des Werks, die die
breite Menge einbezieht und ihr Wissen zu vermitteln sucht,
sondern auch die elitäre Haltung zu
berücksichtigen, die bei einer bevorzugten Minderzahl von
Lesern spezifisches Wissen bereits
voraussetzt. Zu den distinktiven Merkmalen dieser Minderzahl
gehörte neben theologischen,
philosophischen und allgemein profanwissenschaftlichen
Kenntnissen nicht zuletzt auch die Fähigkeit,
mit Zahlen und mit deren von der Tradition fixierten Verständnis
interpretierend umzugehen und
dabei jene geistige Eigenleistung des Lesers aufzubringen, auf
die auch schon Hrabanus beim Aufbau
seines Zyklus vertraut hatte.
Anders als Alkuin und Hrabanus hat Dante das
arithmetische Verständnis `vollikommener' Zahlen nie
explizit, in lehrhaften Aussagen, thematisiert. Zwar spricht
er einmal von der Zahl 10 als `numero
perfetto', doch greift er hierbei auf einen anderen, ebenfalls
verbreiteten Sprachgebrauch zurück, der
die Zehnzahl in pythagoräischer oder neo-pythagoräischer
Tradition aufgrund ihrer Ableitbarkeit aus
der Tetraktys, d.h. als Summe der Zahlen 1 bis 4, als
`vollkommene' Zahl bezeichnet. Das uns
interessierende Verständnis klingt jedoch wenigstens einmal
bei Dante auch terminologisch an, an
einer Stelle, die zugleich auch bereits illustrieren kann,
wie bei Dante selbst in scheinbar nur lehrhaften
Aussagen die Vermittlung gelehrten Vorstellungsgutes einerseits,
und zugleich die Voraussetzung
solchen Vorstellungsgutes bei einer Minderzahl seiner Leser
andererseits zusammenwirken können.
Es handelt sich um eine Rede des heiligen Bernhard im Paradiso,
in der dieser erläutert, wie sich die
Voraussetzungen für die Erlösung des Menschen im Lauf der
Menschheitsgeschichte änderten (
Pd 32,76-84, cf. Tabelle I):
Was Bernhard als Sprecher Dantes hier unterscheidet, sind also zunächst einmal die `tria tempora',
d.h. die Zeit vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade. Aber daß hierbei die Zeit vor
dem Gesetz im Plural als "prime etadi" bezeichnet wird, und daß außerdem das in Zeit der Gnade
für die Erlösung bedingende Sakrament der Taufe als "battesmo perfetto di Cristo" bezeichnet wird,
weist darauf hin, daß Dante exakt in der gleichen Weise wie Augustinus in De trinitate die drei
Weltzeiten in ihrer Kongruenz zu den sechs `aetates mundi' voraussetzt und hierbei durch den
Terminus "perfetto" auch die zahlhafte Vollkommenheit dieser Zeiteinteilung signalisiert.
Auch an manchen anderen Stellen kann man zumindest
vermuten, wenn auch vielleicht nicht ganz
sicher sein, daß Dante mit dem fraglichen arithmetischen
Konzept operiert. Die eindrucksvollste
Adaption des arithmetischen Konezpts findet sich jedoch im 28.
Gesang des Inferno, wiewohl das in
der Zahl 28 potentiell signalisierte Thema der `Vollkommenheit'
auf den ersten Blick nirgendwo so
ferne zu liegen scheint wie in diesem grausamsten und blutrünstigsten
unter Dantes Höllengesängen,
der den Menschen nicht in seiner Gottebenbildlichkeit als Krone der
Schöpfung, sondern
verstümmelt und zerstückelt vor Augen führt, und der auch die
Menschheitsgeschichte nicht als einen
auf vorbestimmte Ordnung gegründeten Weg zum Heil, sondern als
eine einzige Folge von Kriegen
und Katastrophen evoziert. Thema dieses Gesangs ist der Aufenthalt
am Strafort der "seminator di
scandalo e di scisma", Anstiftern religiöser, politischer und
familiärer Zwietracht, die von einem
Teufel mit einem Schwert verstümmelt werden, `gespalten' werden, wie
einer der Verdammten sagt.
Der Teufel ist an einem festen Punkt des ringförmigen Grabens
aufgestellt und treibt die Verdammten
mit den Schlägen seines Schwertes an sich vorüber, und die Wunden,
die diese dadurch erhalten,
heilen beim Durchlaufen des Grabens jedesmal wieder zu, um nach
Vollenden der Kreisbahn von
neuem geschlagen zu werden. Aus der ungezählten, laut Vergil
unzählbaren Menge von Verdammten,
die diesen Graben durchlaufen, werden im Verlauf des Gesangs
genau sechs mit ihren Namen und
ihren individuellen Verstümmelungen vorgestellt.
Als erster erscheint Mohammed, der Begründer des
Islam, geborsten, wie es heißt, vom Kinn bis zum After, mit
zwischen den Beinen hängenden
Eingeweiden. Von Mohammed beiläufig erwähnt wird auch sein Vetter und
Schwiegersohn Ali, der
mit vom Kinn bis zum Haaransatz gespaltenem Gesicht weinend
vor Mohammed her durch den
Graben läuft, also auf der Ebene des erzählten Geschehens
eigentlich noch vor Mohammed
anzusetzen und als erster zu zählen ist. Im Anschluß an Mohammed
gibt sich Pier da Medicina zu
erkennen, ein geschichtlich obskurer, früherer Bekannter Dantes,
dem die Kehle durchstochen und
die Nase und ein Ohr abgeschnitten sind. Von Pier vorgestellt, auf
Verlangen Dantes, wird sodann Curio, der Ratgeber Caesars im
römischen Bürgerkrieg, dem die Zunge aus dem Hals geschnitten ist.
Im Anschluß hieran präsentiert sich Mosca Lamberti,
ein Florentiner Ghibelline, der sich schuldig
bekennt, den Ausbruch der Florentiner Parteienkämpfe verursacht
zu haben, und dem beide Hände
abgeschlagen sind. Und als letzter schließlich präsentiert sich
Bertran de Born, der von Dante
anderweitig als vorbildlicher Dichter der Waffen gerühmte
Trobador und Herr der Burg Autafort, der
in diesem Höllengraben sein abgeschlagenes Haupt `wie eine
Laterne' in der Hand trägt und sich
schuldig bekennt, Jungheinrich von England und dessen Vater
Heinrich II. gegeneinander aufgeheztzt
zu haben. Erst zu Beginn des darauffolgenden Gesangs, im Rahmen
eines epilogartigen Nachspiels,
erwähnt Vergil auch noch ohne Angabe einer besonderen Form der
körperlichen Strafe auch noch
einen siebten Verdammten, den Dante an diesem Ort eigentlich
besonders anzutreffen erwartet hatte,
und den er dennoch, gebannt in seiner Aufmerksamkeit durch
Bertran de Born, übersehen hatte: es
handelt sich um Dantes Verwandten Geri del Bello, der eine
Blutrache verübt und seinerseits einer
seither ungerächt gebliebenen Blutrache zum Opfer gefallen
war: während Dantes Begegnung mit
Bertran de Born war auch Geri del Bello, wie Vergil erzählt,
unbemerkt aus der Menge der Sünder
herausgetreten und hatte drohend mit dem Finger auf seinen
unachtsamen Großneffen gezeigt.
Da der Jenseitsbesucher ungewöhnlich lang am Rand des
Grabens verharrt und auf die Verdammten
herabschaut, drängt Vergil zum Weitergehen und bemerkt ironisch:
`wenn du sie zählen zu können
glaubst, bedenke, daß das Tal sich zweiundzwanzig Meilen weit
im Kreis hinzieht'. Die Stelle hat die
mathematisch interessierten unter Dantes Kommentatoren seit
jeher begeistert, weil 22/7 einer der im
Mittelalter geläufig gewesenen Annäherungswerte für Pi war
und man deshalb gemeint hat, daß aus
dieser und einer ähnlichen Parallelstelle genauer Aufschluß
über die geometrischen Maße von Dantes
Höllentrichter abzuleiten sei. Interessanter für das
Verständnis des 28. Gesangs erscheint jedoch der
Gedanke, die Sünder zu zählen. Mit ihren Namen und persönlichen
Strafen dargestellt werden im 28.
Gesang, wie schon gesagt, genau sechs Verdammte. Wendet man die
klassifizierenden
Deutungsverfahren an, mit denen die allegorische Bibelexegese
signifikante sachliche Eigenschaften
biblischer Personen zu bestimmen pflegte, so lassen sich diese
sechs Sünder auf mehrfache Weise als
einer, zwei und drei unterteilen, wobei hauptsächlich zwei
arithmetisch `vollkommene'
Ordnungsschemata auftreten, nämlich BBCCCA (also zwei plus
drei plus eins), und, etwas
komplizierter, BBCACC (cf. Tabelle V)
Nach ihrer geographischen Herkunft lassen
sie sich, in dieser Reihenfolge, als zwei Araber, drei
Italiener -- mit dem Römer und Hauptstädter Curio in der
Mittelposition -- und ein Südfranzose
unterscheiden. Diese Anordnung deckt sich zugleich mit
ihrer moralischen Qualifizierung, wenn man
sie als zwei Anstifter religiöser Zwietracht, drei Anstifter
politischer Zwietracht (falls auch Pier da
Medicina in diesem Sinn zu verstehen ist), und einen Anstifter
innerfamiliärer Zwietracht
unterscheidet. Mit dieser moralischen Einteilung deckt sich
ferner auch ein distinktives Merkmal ihrer
körperlichen Strafe: Mohammed und Ali sind jeweils durch
vertikale Spaltung des Leibes, des
Rumpfes im Fall Mohammeds und des Gesichts im Fall Alis,
gestraft; die Mittelgruppe der Italiener
und politischen Zwietrachtstifter ist mit Durchstoßen oder
Abschlagen und Verlust einzelner Organe
gestraft, die ihrerseits eine Gruppe von 3+1+2 Wunden ergeben;
und Bertran de Born schließlich,
der sein abgeschlagenes Haupt nicht einbüßt, sondern dieses
Blicke, Seufzer und Worte
aussendende Haupt immer noch in der Hand trägt, ist durch eine
horizontale Spaltung des Leibes am
Hals gestraft, das heißt an genau der Stelle, an der die
komplementären vertikalen Spaltungen
Mohammeds und Alis ihren Ausgang nehmen, so daß diese drei
leiblichen Spaltungen zugleich die
Figur eines Kreuzes ergeben, das das teuflische Schwert den
Leibern Mohammeds, Alis und
Bertrans einschreibt.
In den bisher genannten Fällen ergibt sich
jeweils das Ordnungsmuster zwei plus drei plus eins oder
BBCCCA, das wir auch schon aus der traditionellen Einteilung
der sechs Weltalter kennen, hier
jedoch nicht auch mit der chronologisch geschichtlichen
Herkunft oder mit der Religionszugehörigkeit
der sechs Sünder übereinstimmt. Legt man die letztere zugrunde,
so ergibt sich vielmehr das
kompliziertere Schema BBCACC, denn es handelt sich um zwei
Muslims oder, allgemeiner gefaßt,
Anhänger der Beschneidung, ferner um drei Christen und schließlich,
plaziert zwischen den ersten
und den zweiten dieser Christen, einen einzigen Heiden der antiken
Zeit. Das zeitliche Verhältnis von
fünf vorchristlichen Weltaltern und einem christlichen ist also
allenfalls in genau invertierter Form,
durch einen Vertreter der vorchristlichen Ära und fünf Vertreter
der christlichen Ära, repräsentiert.
Auch eine zeitliche Feineinteilung innerhalb der Vertreter der
christlichen Ära läßt sich hierbei
beobachten, da Mohammed und Ali, die beiden Anhänger der
Beschneidung, dem 6./7. Jh.
angehören, wärend die drei Christen dem 12./13. Jh. angehören,
also ein deutlicher zeitlicher
Abstand zwischen beiden Untergruppen liegt. Dasselbe Schema
BBCACC findet sich schließlich
auch noch ein weiteres mal, wenn man die sechs Sünder
geographisch nicht mit Rücksicht auf ihre
Herkunftsländer, sondern mit Rücksicht auf ihren Sterbeort
analysiert und hierbei das für das
heilsgeschichtliches Denken Dantes zentrale Einteilungsprinzip
der drei Weltteile oder Kontinente in
Anschlag bringt. Denn während bei den übrigen fünf Sündern
zwischen Herkunftsort und Sterbeort
nicht besonders unterschieden werden muß, war Curio zwar ein
Römer, Italiener und Europäer, aber
er starb nicht in Europa, sondern in Afrika, wohin er von
Caesar als Führer der afrikanischen
Truppen entsandt worden war und dann durch seinen Leichtsinn
eine vernichtende Niederlage gegen
im Tal von Zama verschuldete, bei der er selber den Tod fand.
Dieser in Dantes Quelle, dem
Bürgerkriegsepos Lukans, breit geschilderte Tod und sein
Schauplatz werden im Text des Gesangs
nicht ausdrücklich erwähnt, aber sie spielen in Dantes
anderweitigen geschichtlichen und
heilsgeschichtlichen Aussagen eine bedeutsame Rolle, so daß es
gerechtfertigt scheint, sie auch hier
für die Deutung des Aufbaus in Betracht zu ziehen: es ergibt
sich dann eine Folge nicht von zwei
Asiaten und vier Europäern, sondern eine zahlhaft vollkommene
Folge von sechs Person, die
zweimal Asien, drei mal Europa und einmal Afrika besonders
zugeordnet werden können.
Nicht nur die sechs Verdammten, sondern auch
ihre insgesamt sechs an Dante gerichteten Reden
ergeben einen `numerus perfectus', der diesmal auch als
`numerus trigonus', nämlich als Anordnung
eins plus zwei plus drei gedeutet werden kann (Tabelle IV).
In der ersten dieser Reden
beschreibt Mohammed die Anlage des Grabens und spricht den ihm
unbekannten Jenseitsbesucher
an als die Seele eines Toten, der neugierig auf dem Rand des
Grabens verweile, um den Antritt der
eigenen Strafe hinauszuzögern. Nachdem Vergil daraufhin die
Rolle Dantes als lebender, schon bei
Lebzeiten zur Schau des Jenseits berufener Mensch vorgestellt
hat, bleiben `mehr als hundert'
Verdammte staunend stehen, und ihre Aufmerksamkeit richtet
sich von nun auf Dinge der irdischen
Welt, als deren Repräsentant Dante so unerwartet vor ihnen steht.
In seiner zweiten Rede bittet
Mohammed den Jenseitsbesucher, eine prophetische Warnung an
den Häretiker Fra Dolcino zu
überbringen, um diesem einen militärischen Ratschlag für
seinen bevorstehenden Kampf gegen die
römische Kirche zu erteilen. Eine prophetische Botschaft will dann
als nächster, in der dritten Rede,
auch Pier da Medicina überbringen lassen, nämlich an zwei Edelleute
der Stadt Fano, die er vor
einem Mordplan des einäugigen Herrn von Rimini warnen lassen will.
Im Unterschied zu diesen zwei
prophetischen Reden über künftige Zwietrachtfälle der Geschichte
wenden die letzten drei Reden
sich dann vergangenen Vorfällen dieser Art zu: auf Verlangen Dantes
stellt zunächst Pier da Medicina
den neben ihm stehenden Curio und dessen Rolle als Ratgeber Caesars
beim Ausbruck des
römischen Bürgerkrieges vor; im Anschluß hieran stellt
Mosca Lamberti seine eigene Rolle beim
Ausbruch des Florentiner Bürgerkrieges vor; und zuletzt
schließlich erinnert Bertran de Born an seine
Zwietrachtstiftung in der englischen Königsfamilie und greift
auch noch weiter in die geschichtliche
Vergangenheit zurück, wenn er sich in seiner Rolle als Ratgeber
Jungheinrichs vergleicht mit
Achitophel, dem Ratgeber Absaloms bei dessen Rebellion gegen
David. Wir finden also eine ganz
auf die gegenwärtigen und ewigen Verhältnisse der jenseitigen
Welt beschränkte Rede gefolgt von
zwei Prophezeiungen künftiger Dinge und drei Reden, die sich
auf die irdische Vergangenheit richten,
so daß die Trias von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit die
insgesamt sechs Reden der Sünder
als einen `numerus perfectus' oder `numerus trigonus' organisiert.
Ebenso wie die Personen und Reden der Sünder sind
schließlich auch die Gesten, mit denen sie ihre
Wunden vorweisen, als `numerus perfectus' deutbar (Tabelle VI).
Ali bildet hier einen
Sonderfall, da er sich dem Jenseitsbesucher nicht vorstellt,
sondern von Mohammed nur kurz
erwähnt wird, doch da er laut Mohammed `weinend', "piangendo"
vor ihm her durch den Graben
läuft, kann man dieses Weinen möglicherweise als eine
mimische Hervorhebung seines gespaltenen
Gesichts einstufen. In den folgenden drei Fällen geschieht das
Weisen der Wunden jeweils als ein
Öffnen, im Text jeweils durch das Verb "aprire" bezeichnet:
Mohammed öffnet sich mit beiden
Händen die gespaltene Brust; Pier da Medicina öffnet, wenn
auch nicht ausdrücklich mit den
Händen, seine durchstochene Kehle, um den Besucher anzusprechen;
und Pier öffnet den stummen
Mund Curios, um dessen Wunde, die einzige zunächst unsichtbare in
diesem Gesang, dem
Jenseitsbesucher zu zeigen. In den letzten zwei Fällen geschieht
das Weisen dagegen jeweils als ein
`Heben', im Text jeweils durch das Verb "levare" bezeichnet:
Mosca Lamberti hebt beide
Armstümpfe in die Luft, so daß das Blut ihm über das Gesicht
strömt; und Bertran de Born hebt den
Arm mit dem abgeschlagenen Kopf in der Hand hoch zu der kleinen
Brücke, auf der Dante und
Vergil über dem Graben stehen. Insgesamt also, wenn man Ali als
Sonderfall und ersten einbezieht,
ein `numerus perfectus' von eins plus drei plus zwei.
Es scheint demnach, daß Dante den gesamten 28. Gesang
bzw. dessen erzählenden Haupteil so
eingerichtet hat, daß die sechs Sünder, ihre Wunden, Gesten und
Reden auf vielfältige Weise die
`vollkommene' Erfüllung der Sechszahl durch ihre Teiler 1, 2 und 3
widerspiegeln. Diese Anlage wird
dann auch durch die Vorrede des Gesangs, die dem erzählenden
Hauptteil vorangestellt ist, im
Kleinen bereits vorweggenommen (Tabelle III). Denn dort
vergleicht Dante den Anblick der
Verwundeten an diesem Strafort einer imaginären Zusammenschau
der Verwundeten aus fünf
irdischen Kriegen oder Schlachten in der Geschichte Unteritaliens,
von denen zwei, die italischen
Kriege der Trojaner und der zweite Punische Krieg Hannibals gegen
die Römer, der vorchristlichen
Ära angehören, während drei, die Eroberungszüge des Normannenfürsten
Robert Guiscard und die
Niederlagen der Staufer bei Ceprano und Tagliacozzo, der christlichen
Ära angehören: legt man
diese zeitliche Einteilung zugrunde, so werden hier also zwei Gruppen
von Verwundeten aus
vorchristlicher Zeit und drei Gruppen von Verwundeten aus christlicher
Zeit der einen infernalischen
Versammlung von Höllensündern aus allen Zeiten vergleichend gegenüber
gestellt, zwei plus drei plus
eins bzw. BBCCCA.
Daß Dante diesen 28. Höllengesang tatsächlich ganz und
gar nach dem arithmetischen Konzept des
`numerus perfectus' aufgebaut hat, mag zuletzt ein Blick auf die
Gesamtheit der in diesem Gesang
thematisierten Geschichtsfälle zeigen (cf. Tabelle VII). Es
handelt sich um insgesamt vierzehn, von
denen zwei der geschichtlichen Zukunft, vier der vorchristlichen
Ära, und acht der vergangenen
christlichen Ära zugeordnet werden können. Das erscheint für das
uns interessierende
Zahlenverständnis nocht nicht besonders signifikant. Unter den
acht Vorfällen der christlichen Ära ragt jedoch einer insofern
heraus, als über ihn im Text anspielungsweise
signalisiert wird, daß Dante selber persönlich involviert
oder zumindest als Augenzeuge zugegen war, nämlich das geschichtliche
Wirken von Pier da
Medicina als mutmaßlich politischer Zwietrachtstifter. Wenn es deshalb gerechtfertigt ist, diese acht
Vorfälle noch einmal als sieben und einen zu differenzieren, so
ergibt sich eine Gesamteinteilung von
1, 2, 4 und 7 geschichtlichen Themen, die zusammen mit ihrer Summe
14 genau den Divisoren der
zweiten `perfekten' Zahl 28 entsprechen.
Ich habe so weit darauf verzichtet, diesen
zahlhaften Aufbau auch inhaltlich in einem bestimmten Sinn
zu deuten. Tatsächlich würde dies hier auch zu weit führen,
da zu diesem Zweck näher auf Dantes
heilspolitische Vorstellungen über die Rolle des Römischen
Imperiums und der Römischen Kirche
einzugehen wäre, wie er sie anderweitig ausführlich dargelegt
hat. Einige Hinweise seien jedoch
gegeben. Dantes leitende Grundvorstellung, entwickelt als Gegenbild
zu den politischen Konflikten
der beiden Universalmächte in seiner Zeit, war die einer strikten
Trennung und zugleich eines
harmonischen Zusammenwirkens zwischen der weltlichen Oberhoheit
des Kaisers und der geistlichen
Oberhoheit des Papstes, die idealiter den gesamten bewohnten
Weltkreis umfassen und den
politischen Partikularismus ebenso aufheben wie, gemäß dem
Auftrag des Evangeliums, alle Völker
in dem einen christlichen Glauben vereinen sollte. Ihren
politischen Idealzustand hatte die Welt nur ein
einziges mal erreicht, nämlich in der geographischen Ausdehnung
und friedlichen Verfassung des
Römischen Reiches zur Zeit der Geburt Christi, als, wie
Dante im Convivio schreibt, im Hinblick auf
die Inkarnation Christi die Verfassung der Erde ihren
vorbestimmten höchsten Grad an
Vollkommenheit und an Ähnlichkeit mit dem Himmel erreichte.
Daß gerade das Römische Reich
dazu bestimmt war, daß in seinen Grenzen die Inkarnation
stattfinden und sein Kaisertum das der
Kirche komplementär zugeordnete Weltkaisertum werden sollte,
war laut Dante von Anbeginn an in
der römischen Geschichte angezeigt, sowohl in der Geburtsstunde
Rom, der Ankunft des Aeneas in
Italien, die Dante in einer signifikanten Gleichzeitigkeit zur
Geburt Davids in Jerusalem sieht, als auch
in den anschließenden geschichtlichen Kämpfen, in denen Aeneas
und seine aus der Verbindung mit
Lavinia hervorgegangenen Nachfahren sowohl gegen inneritalienische
Gegner wie auch gegen die aus
Afrika eindringenden Punier und schließlich gegen alle von den
Römern unterworfenen Völker
gleichsam wie durch Gottesurteile ihre Bestimmung zur
Weltherrschaft bestätigten. Und das Haupt,
von dem aus die beiden Leuchten des Papsttums und des Kaisertums
die Welt regieren sollten, sollte
nach dieser Deutung des Heilsplanes natürlich keine andere
Stadt sein als Rom, die Grabstätte Peters
und der Sitz der Römischen Kaiser von Anfang an.
Alle vier Ereignisse der vorchristlichen Ära, die der 28.
Gesang thematisiert, haben in diesem
Heilsplan ihren genauen Ort: der Kampf des Turnus und seiner italischen
Anhänger gegen Aeneas
und dessen Trojaner bei deren Ankunft in Italien war eine Auflehnung
gegen den göttlichen Heilsplan,
ebenso die für Dante geschichtlich in etwa gleichzeitige Rebellion
Achitophels und Absaloms gegen
David, und diese beiden in ihrer geschichtlichen Synchronie auf die
spätere Rolle Roms bei der
Inkarnation Christi hindeutenden Ereignisse hat Dante als erstes und
letztes im Aufbau seines 28.
Gesang höchst planvoll einander gegenübergestellt. Eine Auflehnung gegen
die vorbestimmte Rolle
Roms war auch der Einzug der Punier in Italien, mit der für die Römer
vernichtenden Niederlage bei
Cannae, die in der Vorrede des Gesangs besonders hervorgehoben wird, und
die, wie Dante im
Convivio einmal erklärt, erst durch Scipios Sieg über die Punier im
afrikanischen Tal von Zama
wieder gerächt und ausgeglichen wurde: in genau jenem afrikanischen Tal
also, in dem Curio später
dann die den Heilsplan erneut gefährdende Niederlage der Truppen
Caesars verschuldete, und zwar
gerade darum verschuldete, weil er leichtsinnig geglaubt hatte, an
dieser für Rom so ruhmreichen
Stätte den Sieg Scipios noch einmal wiederholen zu können. Auch der
Punische Krieg, wie er in der
Vorrede von Dantes Gesang evoziert wird, und die Präsenz Curios im
erzählenden Hauptteil des
Gesangs sind folglich für Dante miteinander assoziiert.
Curio kommt überhaupt eine Schlüsselstellung im Aufbau des
Gesangs zu. Obwohl sein persönliches
Verhalten als Ratgeber und Anhänger Caesars nach der Darstellung Lukans
von niedrigen Instinkten
geleitet, nämlich mit dem Gold Caesars erkauft war, war doch für Dante
die Eröffnung des
Bürgerkrieges, zu der Curio geraten hatte, eine notwendige Bedingung um
jenes Kaisertum und jene
Ausdehnung des römischen Reiches zu schaffen, die im Hinblick auf die
Geburt Christi vorbestimmt
waren. Als einziger Vertreter der vorchristlichen Ära im erzählenden
Hauptteil des Gesangs markiert
Curio somit gewissermaßen jene Zeitenwende im Aufbau des Gesangs, die
er durch sein moralisch
zwar verwerfliches, aber geschichtlich notwendiges Verhalten
herbeizuführen mitgewirkt hatte. Von
daher läßt sich dann auch vermuten, daß die Repräsentation der drei Weltteile durch die sechs
Sünder und, gemäß ihrer geographischen Herkunft, die ost-westliche
Sequenz von Asien/Arabien
(d.h. Mohammed u. Ali) über Italien mit Rom in der Mittelposition bis
hin zum englischen Kronerbe
in Südfrankreich (d.h. der Heimat Bertrans de Born) jene ideale
Ausdehnung des römischen Reiches
figuriert, die für die Geburt Christi vorbestimmt war, falls der
Aufbau nicht vielmehr den Verlust
dieser Einheit durch die Eroberungen des Islam und durch die
innereuropäischen Streitigkeiten
reflektiert. Die ost-westliche Sequenz der sechs Sünder hat jedoch auch
noch einen anderen, sehr
präzisen Sinn, der sich u.a. aus motivischen Parallelen zum 32. Gesang
des Purgatorio und zu Dantes
Brief an die Kardinäle im Konklave von Perugia ergibt, d.h. aus
Parallelen zu Aussagen, in denen es
jeweils um die von Dante so sehr beklagte Entführung der Kirche aus Rom
in ihre `babylonische
Gefangenschaft' in Südfrankreich geht. Sieht man Mohammed und Ali nicht
einfach nur als Araber
oder Asiaten, sondern präziser noch in einer besonderen Beziehung zum
Heiligen Land, das der
Christenheit durch den Islam verloren gegangen war, so zeichnet die
geographische Sequenz der
Sünder die drei Stationen der Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg
von Jerusalem über Rom nach
Südfrankreich nach. Zum fingierten Zeitpunkt des erzählten Geschehens,
1300, befand die Kurie sich
allerdings unter Bonifaz VIII. noch da, wo sie für Dante hingehörte,
in Italien. Aber 1305 wurde nach
langer Sedisvakanz schließlich Bertran de Got, zuvor Bischof von
Poitiers und Erzbischof von
Bordeaux, zum Papst gewählt, der sich dann in Lyon zu Papst
Clemens V. krönen ließ und die Kurie
in Frankreich zurückbehielt, zunächst vorwiegend in Poitiers,
bis er sie zuletzt fest in Avignon
etablierte. Und das heißt, daß in Dantes 28. Gesang der Ort der
französische Gefangenschaft der
Kirche durch einen aquitanischen Trobador repräsentiert wird,
dessen Burg Autafort nicht nur in der
späteren Diözese dieses verwerflichen Nachfolgers Petri lag,
zwischen Poitiers und Perigueux,
sondern der als Bertran de Born auch auf den selben Vornamen
getauft war wie dieser Papst. Es ist
folglich im geographischen Aufbau des Gesangs nicht nur der
ideale Zustand des römischen
Kaiserreiches bzw. dessen aktuelle Zersplitterung, sondern auch
der geschichtliche Weg oder Irrweg
des Papsttums genau reflektiert.
Diese eiligen Hinweise müssen hier leider genügen.
Sie mögen jedoch bereits deutlich machen, daß
wir es hier mit einem Zahlenbau zu tun haben, der keineswegs nur an
traditionelles Schulwissen anknüpft,
sondern zugleich auch für Inhalte codiert, die für Dantes Zeit
höchst aktuell und von einiger politischer und kirchenpolitischer
Brisanz waren. In jedem Fall aber handelt
es sich um einen Zahlenbau, der für
den gewöhnlichen Leser von Dantes Zeit in dieser so realistisch
und absichtslos daherkommenden
Erzählung gar nicht zu bemerken war, sondern zu bemerken war nur
für einen Leser, der eine
gewisse exegetische Schulung besaß und außerdem über die nötige
Humilitas verfügte, sich auf eine
sehr eingehende Betrachtung der hier dargestellten Prozession
zeichenhaft verstümmelter Leiber
einzulassen, die ja zur näheren Betrachtung wirklich nicht
jedermann einlädt. Unter den
Kommentatoren Dantes, die den Gesang während der letzten mehr
als sechshundert Jahre
kommentiert haben, scheint ein solcher Leser bisher noch nicht
aufgetreten zu sein.
Wir haben damit verschieden Beispiele für Verwendung `perfekter
Zahlen' im mittelalterlichen
Dichtungsaufbau kennengelernt, zunächst noch eher wenig entwickelt
bei Alkuin, formal aufwendiger
durchkonzipiert bei Hrabanus Maurus, und mit einer ganz besonderen
Komplexität schließlich bei
Dante gestaltet, wobei der letztere sich von seinen
frühmittelalterlichen Vorgängern auch insofern
unterscheidet, als bei ihm nicht formale Elemente wie Strophe,
Vers und Buchstabe, sondern die
Dinge selbst, von denen seine Dichtung handelt, zahlhaft `vollkommen'
angeordnet sind. In diesem
Punkt steht Dantes Dichtung der Bibel in ihrem patristisch-mittelalterlichen
Verständnis näher, da
auch dort weniger die zahlhafte Einteilung der biblischen Bücher,
sondern vor allem die Zahl von
Dingen, Personen und Ereignissen der biblischen Geschichte in ihrem
verborgenen Sinn gedeutet
wurde. Wo die karolingischen Dichter formale Elemente in zahlhafter
`Vollkommenheit' arrangiert
hatten, da hat Dante also in genauerer Nachahmung des göttlichen
Schöpfers geschichtliche
Personen und Ereignisse zahlhaft geordnet, die scheinbar katastrophisch
verlaufende Weltgeschichte
auf eine vorbestimmte, Ordnung bezogen und so im eigenen Gedicht noch
einmal die Vorstellung
von einer Schöpfung sinnfällig gemacht, in der alle Dinge nach Maß,
Zahl und Gewicht eingerichtet
sind.
2. Boethius
Vollkommene Zahlen, d.h. Zahlen, die gleich der Summe ihrer ganzzahligen
Divisoren sind, werden im griechischen Altertum anscheinend zuerst bei
Euklid behandelt und wurden dem lateinischen Mittelalter dann
hauptsächlich durch die Institutio arithmetica des Boethius (m. 524)
bekannt, die ihrerseits im wesentlichen eine lateinische Bearbeitung der
griechischen Arithmetik von Nikomachos von Gerasa ist. Die
Institutio arithmetica war die Hauptquelle der mittelalterlichen
Arithmetik, an der die Gliederung und Darstellung des gesamten Lehrstoffs
bis in die frühe Neuzeit orientiert blieb. Sie besteht aus zwei Büchern,
von denen das erste den Unterschied zwischen geraden Zahlen, ungeraden
Zahlen und Primzahlen sowie verschiedene Unterarten derselben und
außerdem die Proportionen (proportiones), d.h. Arten der Gleichheit und
Ungleichheit zwischen zwei Zahlen, behandelt, während das zweite Buch
den Medietäten (medietates, proportionalitates), d.h. Verhältnissen
zwischen zwei oder mehr Proportionen, gewidmet ist.
3. Augustinus
Ihre eigentliche Bedeutung für das Mittelalter erlangten die
vollkommenen Zahlen dagegen außerhalb des Quadriviums, nämlich in
der Bibelexegese, wo sie seit Augustinus geradezu ein Paradebeispiel
wurden für die Bestätigung des Wortes der Weisheit, daß Gott alle Dinge
seiner Schöpfung nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen habe.
Augustinus war nicht der erste, der das arithmetische Verständnis
vollkommenener Zahlen auf die göttliche Schöpfung, nämlich auf den
biblischen Bericht von den sechs Tagen der Weltschöpfung, anwandte.
Vorausgegangen war ihm hierin vielmehr in der jüdischen Exegese Philon
von Alexandrien, dessen platonisierende Bibelexegese
überhaupt eine der Haupquellen für die christlichen Kirchenväter war.
Aber es war Augustinus, der dieses Verständnis des Schöpfungsberichts
für die lateinische Welt dauerhaft befestigte und durch die Verbindung des arithmetischen Konzepts
mit dem biblischen Thema dafür sorgte, daß dieses arithmetische Konzept von hier aus für die
lateinische Welt auch Bedeutung für mehr oder weniger sämliche übrigen Okkurrenzen der
Zahl 6 in der Bibel, in der Geschichte und im Kosmos erlangte.
4. Alkuin
Wie schon gesagt haben solche Deutungen des Sechstagewerkes die
gesamte bibelexegetische
Deutung der Sechszahl überaus nachhaltig geprägt, wobei in der
nachfolgenden Tradition zuweilen
besonderes Gewicht auf gelegt wurde auf Beziehungen zur Passion
Christi, die sich im sechsten
Weltalter, am sechsten Wochentag, zwischen der sechsten und der
neunten Stunde des Tages, mit
dem Wort "consummavi" vollendete. Um nun auch der mittelalterlichen
Nutzanwendung dieses
Zahlenverständnisses im Bereich der Dichtung nachzugehen,
sei als erstes ein Gedicht von Alkuin (m.
804) angeführt, das dieser in seinem teils in Prosa, teils
in Versen von der Unsterblichkeit der Seele
handelnden Brief an Gundrada, eine Verwandte Karls des Großen,
beigefügt und dort auch noch mit
einer kurzen Prosaerklärung versehen hat (Übers. P. Klopsch):
I
Te homo laudet,
alme creator,
pectore, mente,
pacis amore;
non modo parva
pars quia mundi est.
Dich lobe der Mensch,
begabender Schöpfer,
im Herzen und im Geiste,
in Liebe zum Frieden;
ein nicht eben geringer
Teil des Alls ist er ja.
II
Sed tibi sanctae
solus imago
magna, creator,
mentis in arce,
pectore puro
dum pie vivit.
Vielmehr ist er allein
dein großes Ebenbild,
Schöpfer, in des Heiligen
Geistes Burg,
wenn er reinen Herzens
nur in der Ehrfurcht lebt.
III
O deus et lux
laus tua semper
pectora et ora
conpleat ut te
semper amemus,
sanctus ubique.
O Gott und Licht,
dein Preis möge stets
Herzen und Münder
erfüllen, auf daß wir dich
stets lieben,
Heiliger, Allgegenwärtiger.
IV
Haec pia verba,
virgo fidelis,
ore caneto,
ut tua mitis
tempora Christus
tota gubernat.
Diese frommen Worte,
gläubige Jungfrau,
laß in deinem Munde erklingen,
auf daß der sanfte
Christus dein ganzes
Leben leite.
V
Qui tibi solus
sit, rogo, semper
lux, amor atque
forma salutis,
vita perennis,
gloria perpes.
Er sei allein dir,
bete ich, allezeit
Licht, Liebe und
Urbild des Heils,
ewiges Leben,
immerwährender Ruhm.
VI
Te cui castum
corpore, mente
dirige templum,
dulcis amica,
et sine semper
fine valeto.
Ihm weihe dich
als keuschen Tempel
in Leib und Geist,
süße Freundin,
und allzeit und ewig
lebe wohl!
Hoc carmen tibi cecini senario numero nobili,
qui numerus perfectus est in partibus suis, te
optans esse perfectum in sensibus tuis. Cuius
numeri rationem, sicut et aliorum, sapientissimus
imperator tuae perfacile ostendere potest sagacitati.
Dieses Gedicht habe ich dir in der
edlen Sechszahl gesungen, die vollkommen ist in ihren Teilen, weil ich
wünsche, daß du vollkommen seiest in deinen Sinnen. Was es mit dieser
wie auch mit anderen Zahlen auf sich hat, wird der allerweiseste Kaiser
deinem lernbegierigen Verstande mit Leichtigkeit darlegen können.
5. Hrabanus Maurus
Auch Alkuins Schüler Hrabanus Maurus (m. 856) hat nicht
nur in seinen exegetischen und
enzyklopädischen Schriften vielfach auf das arithmetische
Verständnis `vollkommener' Zahlen
zurückgegriffen, sondern dieses Verständnis auch in seinen
Gedichten in Anwendung gebracht und
dies dabei dann meist durch explizite Deutungshinweise dem
Leser signalisiert. Am eindrucksvollsten
geschieht dies in seinem Werk De laudibus sanctae crucis, einem
Zyklus von 28 Figurengedichten,
denen in der Einleitung noch zwei weitere Figurengedichte sowie
verschiedene andere metrische
Stücke vorangestellt sind. Bei diesen Figurengedichten, die eine
bereits spätantike Technik aufgreifen
und weiterentwickeln, handelt es zunächst jeweils um einen in
Hexametern verfaßten `Grundtext',
dessen Verse ohne Wortzwischenräume geschrieben sind und
innerhalb eines Gedichts stets die
gleiche Buchstabenzahl aufweisen, so daß der Grundtext eine
quadratische oder rechteckige
Textfläche bildet. Dem Grundtext sind jeweils sogenannte `versus
intexti' eingearbeitet, `eingewebte
Verse', nämlich vertikale, diagonale oder sonst von der normalen
Leserichtung abweichende
Buchstabensequenzen, die ihrerseits Verse oder Sätze ergeben und
durch ihren in den Handschriften
auch farblich hervorgehobenen Verlauf dem Grundtext eine figürliche
Darstellung des Kreuzes Christi
oder verwandter Gegenstände einzeichnen. Diese von den `versus
intexti' gebildete eigentliche
`figura' ist jeweils in ihrer geometrischen Form und zum Teil auch
in der Zahl ihrer Buchstaben oder
Teilfiguren auf biblische und bibelexegetische Zahlenvorgaben
gegründet, die der Autor für jedes
Gedicht in einer eigenen, dem Gedicht auf der gegenüberliegenden
Handschriftenseite jeweils
nachgestellten `declaratio' in Prosaform erläutert hat. Außerdem
ist im zweiten Buch des Werkes
noch einmal der hexametrische Grundtext jeder Figur in eine
Prosaparaphrase aufgelöst, was auch
sehr nötig ist, da die hexametrischen Grundtexte selber
sich mehr um die je erforderliche Plazierung
einzelner Buchstaben als um Verständlichkeit bemühen.
Continet autem totus liber iste viginti octo figuras metricas cum sequente sua prosa,
absque superliminari pagina et prologo: qui numerus intra centenarium suis partibus perfectus est,
ideo juxta hujus summam opus consummare volui, qui illam formam in eo cantavi quae consummatrix
et perfectio rerum est. [Es enthält aber das gesamte Buch 28 metrische Figuren mit ihrer {im 2.
Buch} jeweils nachfolgenden Prosa, nicht mitgerechnet die jeweils hinzugefügte Seite {der
`declaratio'} und den Prolog {des ganzen Werks}: diese Zahl ist im Bereich der Hundert diejenige,
die durch ihre Teile erfüllt wird, und darum habe ich in dieser Summe auch dieses Werk vollenden
wollen, der ich darin jene Form {d.h. das Kreuz Christi} besungen habe, die die Vollendung und
Erfüllung aller Dinge ist]
zu unterscheiden sind. Durch die formale Differenzierung von 1, 2, 4, 7 und 14 Gedichten wird somit
der `vollkommenen' Erfüllung der 28 durch ihre ganzzahligen Teiler im Aufbau des Zyklus Rechnung
getragen. Selbst wenn Hrabanus in der letzten Prosaerklärung nicht eigens auf das zugrundeliegende
arithmetische Verständnis hingewiesen hätte, wäre dieses doch durch die Entdeckung Taegers in
seiner konstitutiven Bedeutung für den Gesamtaufbau eindeutig nachweisbar.
6. Dante
Bei den bisher angeführten Beispielen, Alkuin und Hrabanus, handelt es
sich jeweils um lateinische Autoren,
die, zumindest im Frankenreich, zu den gelehrtesten Männern ihrer
Zeit gehörten und zugleich
höchste Ämter innehatten: Alkuin war von Karl nach Tours zum
Leiter der Hofschule berufen
worden und spielte eine entscheidende Rolle bei den
politischen und bildungspolitischen Reformen,
die wir heute als `karolingische' Reform bezeichnen. Und sein
Schüler Hrabanus wirkte nach dem
Besuch der Hofschule zunächst als Lehrer und Abt in Mainz und wurde
dann auf Veranlassung
Ludwigs des Deutschen, dem die offiziöse Fassung des Liber de
laudibus sanctae crucis gewidmet
ist, Erzbischof von Mainz. Die Leser, denen ihre Werke zugedacht
sind, sind abgesehen von den
fürstlichen Adressaten die Gelehrten und Kirchenmänner des
Frankenreiches, so gewiß auch im Fall
von Alkuins Brief an Gundrada, der nicht als eine Art Privatpost
zu verstehen ist, sondern vielmehr,
wie die Prosa-Erklärung zeigt, am Hof Karls zur Kenntnis genommen
werden sollte und außerdem
auch darüber hinaus in gelehrten Kreisen zirkulierte, wie die
Anspielung in Hrabans Figurengedicht
vermuten läßt. Beide Werke wurden somit in einem Milieu verfaßt
und rezipiert, in dem das
Verständnis ihres Zahlenbaus den Lesern keine allzugroßen
Schwierigkeiten bereitet haben dürfte,
zumal die Autoren jeweils ausdrücklich auf die gelehrten
Verständnisgrundlagen dieses Zahlenbaus
hinweisen. Gleichwohl gehört zur geistlichen Interpretation,
wenn sie durch einen hierzu befähigten
Leser vorgenommen werden soll, auch eine gewisse geistige
Eigenleistung beim Durchdringen des
äußeren Anscheins und Erkennen der verborgenen Ordnung und
ihres Sinns, und um diese
Eigenleistung als solche zu ermöglichen, hat besonders
Hrabanus und bis zu einem gewissen Grad
auch Alkuin Vorsorge getroffen, indem sie mit ihren
Deutungshinweisen zwar die Richtung weisen,
aber den Leser doch nicht schon zu jeder Einzelheit des
Formenbaus zuverlässig hinzuführen.
Etwas anders verhält es sich bei meinem letzten Beispiel,
der Commedia Dantes, die fast ein
halbes Jahrtausend später zwar immer noch in vieler Hinsicht
aus den gleichen Quellen schöpft wie
die Werke der karolingischen Zeit, aber doch unter wesentlich
anderen Bedingungen verfaßt wurde.
Ihr Autor, der einer durch Geld- und Grundstücksgeschäfte zu
Reichtum gekommenen
Bürgersfamilie in Florenz entstammte, hatte einen für seine
Herkunft recht ungewöhnlichen
Bildungsgang zurückgelegt, über den wir kaum genaue Einzelheiten
wissen, außer daß er bereits in
seiner Jugend Beziehungen zur Elite der volkssprachlichen
Dichter des `Dolce Stil Nuovo' anknüpfte
und bei ihnen als Fortsetzer ihrer philosophierenden und
spiritualisierenden Liebesdichtung große
Anerkennung fand; daß er ferner, wie er selber mitteilt,
Schulen der Theologen und Philosophen
besuchte, womit wahrscheinlich die Studia der beiden Bettelorden
in Florenz gemeint sind; und daß
er vermutlich auch die Universität in Bologna und vielleicht
sogar die Pariser Universität besuchte,
obwohl beides sich nicht mit Sicherheit nachweisen läßt. Der
Erwerb von Wissen und Wissenschaft
war für Dante programmatisch nicht ein Mittel zur Erlangung von
Ämtern und zur Sicherung des
Broterwerbs, sondern eine dem Menschen aufgegebene Bestimmung,
seine Vernunftanlage zu
vervollkommnen und bei entsprechenden Fortschritten auf diesem
Gebiet auch die geistige Führung
seiner minder entwickelten, weil in Tagesgeschäften verstrickten
Mitmenschen zu übernehmen. Es ist
fraglich, ob je ein Dichter seinen Auftrag zur Erziehung und
Führung der Menschheit so ernst
genommen und mit so viel Geist erfüllt hat. In der politischen
Führung allerdings war ihm wenig Erfolg
beschieden: seine kurze politische Karriere als Mitglied des
Rates seiner Vaterstadt endete mit einem
Fiasko und seiner lebenslangen Vertreibung aus Florenz, und seine
anschließenden Versuche,
während des Exils als Propagandist des Kaisertums Einfluß auf die
Mächtigen seiner Zeit und auf die
Geschicke der Christenheit auszuüben blieben im wesentlichen
Literatur.
Bastavasi ne' secoli recenti
con l'innocenza, per aver salute,
solamente la fede d'i parenti;In den früheren Jahrhunderten genügte, um das
Heil zu erlangen, außer der Unschuld allein schon der Glaube der
Väter (76-78)
poi che le prime etadi fuor compiute,
convenne ai maschi a l'innocenti penne
per circuncidere acquistar virtute;Nachdem dann die ersten Alter (der Welt) vollendet waren,
wurde es erforderlich für die mit Unschuld beflügelten Männlichgeborenen,
durch Beschneidung Tugendkraft zu erwerben (79-81)
ma poi che 'l tempo de la grazia venne,
sanza battesmo perfetto di Cristo
tale innocenza là giù si ritenne.Doch als dann die Zeit der Gnade kam, mußte ohne
die vollkommene Taufe Christi auch solche Unschuld drunten bleiben (82-84)
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